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BBFK 2024

Berufsbildung in Zeiten des Mangels

Handlungserfordernisse
neu denken
9. österreichische Berufsbildungsforschungskonferenz am 3.-5.07.2024 in Innsbruck

Abstracts 2016

Thematisches Forum

„‘Who puts the ‚Bildung‘ in ‚Berufsbildung‘?“ – Berufspädagogische Reflexionen aus bildungstheoretischer Perspektive vor dem Hintergrund von Diskursen über Beruflichkeit, gesellschaftliche Teilhabe und Inklusion in Arbeit und Beruf

Von:
Schnarr, Alexander; Justus-Liebig-Universität Gießen, Deutschland
Benner, Ilka; Justus-Liebig-Universität Gießen, Deutschland
Magalhaes, Sónia; Justus-Liebig-Universität Gießen, Deutschland

Typ: Thematisches Forum

Die Gestaltung des Übergangs von der Schule in den Beruf, die Umsetzung inklusiver Bildung sowie die Integration von Menschen mit Fluchterfahrungen sind nur einige der aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen. Bildung als Ermöglichung von Beruflichkeit stellt für diese Aspekte eine diskursive Klammer dar. (Berufs-)Bildung gilt als Möglichkeit der Sicherung gesellschaftlicher Teilhabe für alle. Vor dem Hintergrund der ihr im Diskurs auferlegten Aufgaben hat sich berufliche Bildung dem Anspruch zu stellen, unterschiedlichen Zielgruppen mit heterogenen Voraussetzungen, Kompetenzen und Interessen gleichermaßen gerecht zu werden.

Im Rahmen des thematischen Forums wird der Versuch unternommen, sich der Leitfrage der Tagung nach „Berufsbildung, eine Renaissance?“ über den Bildungsbegriff und den mit ihm zusammenhängenden Dimensionen ‚gesellschaftlicher Teilhabe‘ und ‚Inklusion‘ zu nähern. Geht man mit Kutscha (2008) davon aus, dass Beruflichkeit als Prinzip kultivierter Arbeit ein konstitutives Element komplexer arbeitsteiliger Gesellschaften ist, wird deutlich, dass der Kategorie ‚Beruf‘ in der Diskussion darüber, wie die Bewältigung der aufgezeigten gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen gelingen kann, eine besondere (bzw. erneuerte) Bedeutung zukommt. Diesem Postulat gilt es, vor dem Hintergrund unterschiedlicher Zugänge zum Bildungsbegriff und den sie jeweils kennzeichnenden Konsequenzen für die (Berufs-)Bildungsforschung und die Berufsbildungspraxis nachzugehen.

Der beabsichtigte Erkenntnisgewinn aus der gemeinsamen Diskussion im thematischen Forum besteht darin, sich einer Antwort auf die Frage zu nähern, welches Bildungsverständnis der beruflichen Bildung aktuell zugrunde liegt bzw. im Licht der aktuellen Herausforderungen zugrunde liegen sollte. Vor diesem Hintergrund wird diskutiert, inwiefern der an das Feld der beruflichen Bildung herangetragene Anspruch der gesellschaftlichen Integration durch Beruflichkeit und Beruf mit den derzeitigen Entwicklungen und Anforderungen sinnvoll in Passung gebracht werden kann. Hierzu werden zunächst gemeinsam mit den Teilnehmenden verschiedene Dimensionen des Berufsbildungsbegriffs eruiert, bevor Dr. Alexander Schnarr im ersten Impulsvortrag mit dem Titel „“Who puts the ‚Bildung‘ in ‚Berufsbildung‘?“ – bildungstheoretische Zugänge zu berufspädagogischen Lehr-/Lernarrangements“ den Versuch unternimmt, die im Kontext des thematischen Forums aufzuwerfenden Aspekte zu rahmen. Er geht der Frage nach, wieviel ‚Bildung‘ normativ in aktuellen Konzeptionen und bildungspolitischen Vorstellungen von beruflichem Lernen in Schule und Betrieb enthalten ist. Ausgangspunkt der Überlegungen ist ein neuhumanistisches Bildungsverständnis, das nach wie vor für das allgemeinbildende Schulsystem – vermeintlich – konstitutiv ist. Eben jenes Schulsystem übergibt seine Absolvent_innen dann in den berufsbildenden Bereich, der mit dem Leitziel der Entwicklung beruflicher Handlungskompetenz potentiell neue Anforderungen an die Lernenden stellt. Mit dem Übergang von der Schule in die berufliche Ausbildung wird hier möglicherweise eine Differenzierungslinie markiert, auf der unterschiedliche Verständnisse davon aufeinandertreffen, was Bildung für das Subjekt in unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilsystemen meint. Müssen vor diesem Hintergrund und mit dem Blick auf Übergangs-, Inklusions- und Teilhabeproblematiken Konzeptionen von ‚Bildung‘ und ‚Berufsbildung‘ nicht möglicherweise (er)neu(ert) gedacht werden? Falls höhere Allgemeinbildung „über den Beruf und nur über den Beruf“ (Spranger 1969) führt und Erwerbsarbeit die Zielkategorie einer Vielzahl von Bildungsanstrengungen darstellt, ist es dann nicht Zeit für ein Plädoyer für Beruflichkeit als Leitorientierung im gesamten Bildungswesen?

Es schließt sich der zweite Beitrag von Sónia Magalhães an, in dem sich die Referentin unter dem Titel „Weil nicht sein kann, was nicht sein darf – Inklusion in Arbeit und Beruf im Spannungsverhältnis ökonomischer und berufspädagogischer Funktionslogiken gestalten“ den im Rahmen des Rechts auf inklusive (Berufs-)Bildung potenzierten Diskrepanzen zwischen einer zunehmend ökonomisierten Berufsbildung und daraus resultierenden Exklusionsmechanismen annähert. Standen im vorangegangenen Vortrag bildungstheoretische und bildungsphilosophische Überlegungen im Mittelpunkt, richtet sich der Fokus nun auf bildungspolitische Aspekte. Zwar definiert sich Berufs- und Wirtschaftspädagogik über das Zusammenwirken dreier Systeme – Beruf und Beruflichkeit, Wirtschaft und Wirtschaftlichkeit sowie Pädagogik und Mensch –, jedoch erwachsen aus diesem nicht gänzlich zu harmonisierenden Zusammenspiel verschiedene Probleme, die sich insbesondere vor dem Hintergrund der Inklusion Benachteiligter in Arbeit und Beruf offenbaren. Eine dieser Fragen tangiert unweigerlich die Bedeutung von Inklusion für das Berufskonzept sowie das Verständnis von Berufsbildung insgesamt: Einerseits müssen aus ökonomischer Perspektive die hohen Standards der Berufsausbildung aufrechterhalten werden. Andererseits muss es im Sinne inklusiver Strukturen, der Ansprüche der Berufspädagogik sowie der Berücksichtigung des einzelnen Menschen und der Notwendigkeit zu selbstbestimmter Entwicklung möglich sein, Qualifikationen jenseits des starren Berufskonzepts nicht nur zu vermitteln, sondern auch anschlussfähig zu gestalten. Daran schließt die Frage nach der Gestaltung einer zukunftsfähigen, inklusiven Berufsbildung an: Wie kann angesichts einer aufrechtzuerhaltenden ökonomischen Funktionalität der beruflichen Bildung sowie einer deutlich erkennbaren Tendenz zu zunehmend höheren formalen Bildungsabschlüssen gewährleistet werden, dass berufliche Teilqualifikationen unterhalb der derzeit benötigten Kompetenzbündel sichtbar werden? Kann doch sein, was nicht sein darf?

Der dritte, von Ilka Benner referierte Beitrag erweitert die bisherigen Ausführungen um eine empirische Perspektive. Unter dem Titel „Vorberufliche Bildung als Ermöglichung von Teilhabe. Interaktion als zentrales Moment im Bildungsprozess “ diskutiert die Referentin die Ergebnisse einer qualitativen Studie mit Jugendlichen in der Berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme. Der Beitrag nähert sich einem prozessualen Bildungsverständnis an, welches durch Lehrkräfte wertschätzend begleitete Gelegenheiten zur Selbstwirksamkeitserfahrung Jugendlicher als zentrales Element integriert hat. Wesentlich ist der Bezug der Lehrkräfte zu den Jugendlichen, die sich zunächst als „abgestempelt“ in der Maßnahme wahrnehmen, aber durch die zugewandte Interaktion mit „ihren“ Pädagogeninnen sowie die berufspraktischen Anteile ein neues Selbstvertrauen und tragfähige Zukunftsperspektiven aufbauen. Ein wesentlicher Fokus dieses Bildungsverständnisses liegt in der Rolle des pädagogischen Personals, welche im besten Wortsinne als Bildungsbegleiterinnen agieren. Jedoch geht das Bildungsverständnis der Studie darüber hinaus. Nicht ein lediglich begleiteter subjektiver Prozess führt zur Bildung, sondern diese wird erst möglich durch die wertschätzende Interaktion der Jugendlichen und der Pädagogen_innen. Damit hebt sich die Berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme von den schulischen Bildungsprozessen der Jugendlichen ab und es gelingt ihr, im Kontext beruflicher Erfahrungen Bildungsprozesse jenseits von Verwertbarkeitslogiken zu initiieren. Die Maßnahme ermöglicht in einer interaktiven Weise das, was Humboldt (1997) für die allgemeine Bildung fordert: In der Auseinandersetzung mit der beruflichen Welt bildet das Individuum seine Persönlichkeit und gelangt auf diesem Wege zu einer tragfähigen beruflichen Zukunftsperspektive.

Für einen Kommentar der drei Beiträge wurde Prof. Dr. Günter Kutscha angefragt.

Der überwiegende Teil des thematischen Forums dient dann der Diskussion der durch die 10minütigen Impulsvorträge sowie den Kommentar aufgeworfenen Aspekte. Diese sollen daher nach der Möglichkeit, im Anschluss an die Beiträge Verständnis- und Rückfragen stellen zu können, zusammenhängend besprochen und reflektiert werden. In einem offenen Arrangement nimmt das Plenum auf diese Weise gewissermaßen die Rolle des/der vierten Diskutant_in ein. Das Forum endet mit einem Rückbezug auf die eingangs gemeinsam konturierten Dimensionen des Berufsbildungsbegriffs unter der Leitfrage, inwiefern sich die Orientierungen aller Teilnehmenden auf die Frage, wie viel Bildung in der Konzeption von ‚Berufsbildung‘ enthalten ist, im Verlauf des Forums möglicherweise verändert bzw. verfestigt haben und welche neuen Fragestellungen für die theoretische wie empirische Arbeit sich der Plenumsdiskussion ergeben.

Zu den Referent_innen:

Ilka Benner ist Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Professur für Berufspädagogik und Didaktik der Arbeitslehre an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Benachteiligtenforschung, Genderforschung sowie die schulische Berufsorientierung.

Sónia Magalhães ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Berufspädagogik und Didaktik der Arbeitslehre an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Fragen der Inklusion in der beruflichen Bildung sowie die Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen in heterogenen Lerngruppen.

Dr. Alexander Schnarr ist Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Professur für Berufspädagogik und Didaktik der Arbeitslehre an der Justus-Liebig-Universität Gießen. In seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit widmet er sich dem Thema ‚pädagogische Professionalität‘ aus professions- und bildungstheoretischer Perspektive.



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